Ich kam am 8. Mai 1933 in Cluj, der Hauptstadt der rumänischen Provinz Transsilvaniens, auf die Welt. Neben den Rumänen lebten in der Provinz zahlreiche Ungarn, die schon durch die Verwendung ungarischer Ortsnamen ihren Anspruch auf Gleichberechtigung oder Dominanz anmeldeten. So hiess Cluj auf Ungarisch Kolozsvár und Marghita Margitta. Von 1940 bis 1945 stand das Gebiet unter ungarischer Herrschaft.
Ich war das einzige Kind von Izsó Löb und Jolán Löb geb. Rosenberg. Mein Vater war Kaufmann. Meine Mutter starb 1942 an TB. Um eine Ansteckung zu vermeiden, durfte ich ihr Krankenzimmer vier Jahre lang nicht betreten und konnte nur von der Türschwelle aus mit ihr reden. Die ersten zehn Jahre meines Lebens verbrachte ich in Marghita, einem grossen Dorf mit 8500 Einwohnern, darunter etwa 3000 Juden. Mit meinen Eltern gehörte ich zu den „Neologen“, die den religiösen Regeln nicht streng folgten, mehr ungarisch als jiddisch sprachen und sich in die ungarische Kultur zu assimilieren versuchten.
Man kann sagen, dass im 20. Jahrhundert Ungarn das antisemitischste Land in Europa war. Gegen Ende der 1930er Jahre wurden Gesetze erlassen, die den Juden fast alle Rechte entzogen. Ab 1940 waren diese Gesetze auch in Transsilvanien gültig. Als es noch kein Ausgehverbot für Juden gab, ging ich oft mit Sári, der jüngeren Schwester meiner Mutter, schwimmen, spazieren oder ins Kino, um Tarzan oder Popeye zu bewundern. Sári hatte für mich aus Stoffresten einen kleinen Hund gebastelt, den ich immer bei mir trug. Ich wusste nicht, dass Sári und ihre Freunde während ihrer Ausflüge in die Berge kommunistischen Unterricht erhielten und gelegentlich von der ungarischen oder rumänischen Polizei misshandelt wurden.
In der Primarschule in Marghita bekam ich immer die besten Noten, bis die jüdischen Kinder einem Lehrer übergeben wurden, der sich durch sadistische Strenge im Unterricht und in der Benotung für diese Schmach rächte. Zu Hause lernte ich von Jeschiwa-Studenten hebräisch lesen, ohne die Worte zu verstehen, oder spielte mit meinen jüdischen Freunden, wenn ich nicht Grimms Märchen las. Draussen in den Gassen floh ich zu Fuss oder auf dem Rad vor den Bauernlümmeln, die mich „Saujud“ nannten und mit Steinen bewarfen. Einige antisemitische Episoden aus dieser Zeit blieben mir bis heute im Gedächtnis.
Einmal stand ein schmutziger Strassenjunge vor unserem Haus und grölte zur Melodie der „Hatikwa“ ein Lied, das die „Stinkjuden“ aufforderte, sich nach Palästina zu „verpissen“. Ich glaubte, dass jemand den Verrückten verhaften würde, aber niemand tat es.
An Feiertagen mussten alle Häuser beflaggt werden. Ich weiss nicht mehr, ob ich je mit meinen Luftsprüngen wenigstens die Fransen erreichte, aber mein Vater wurde zu einer hohen Busse verurteilt, weil sein „jüdischer Sohn“ die „ungarische Nation beleidigt“ hatte.
Meine Mutter war weithin nicht nur für ihre Schönheit, sondern auch für ihre Ordnungsliebe und Sauberkeit bekannt. Während ihrer Krankheit tat sie alles, was sie konnte, um ihre Umgebung vor Bakterien zu schützen. Trotzdem wurde mein Vater zu einer noch höheren Busse verurteilt, weil seine Frau „mit ihrer teuflischen jüdischen Intelligenz“ versucht habe, „die ungarische Nation zu vergiften“.
Lange bevor ich die abstrakten Begriffe kennen lernte, wusste ich, welches Unheil die Kombination von Nationalismus und Judenhass anrichten konnte.
19. März 1944
In den ersten Kriegsjahren hatte das Dritte Reich seinem Bündnispartner Ungarn eine gewisse Handlungsfreiheit gewährt. Dies rettete die ungarischen Juden zunächst vor dem Holocaust. Als die sowjetische Armee näher rückte, versuchten die Ungarn und ihr „Reichsverweser“ Miklós Horthy von der „Achse“ abzuspringen. Doch Hitler kam ihnen zuvor. In der Nacht zum 19. März 1944 marschierten seine Truppen in Ungarn ein, womit auch das Schicksal der ungarischen Juden besiegelt war.
Zwischen dem 15. Mai und dem 7. Juli ließ SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, der „Architekt des Holocaust“, durch seine 150 Sonderkommandos und viel mehr eifrige ungarische Helfer 440,000 Juden aus den Provinzstädten und Dörfern in Gettos sperren und von dort nach Polen verschleppen, wo 330,000 gleich ermordet wurden.
Ich war nach dem Tod meiner Mutter zu meinen Grosseltern in Cluj gezogen, wo der grösste Teil meiner Familie wohnte. Dort besuchte ich das jüdische Gymnasium, das aber bald nach dem deutschen Einmarsch geschlossen wurde.
Unter allen brutalen Massnahmen, die die Juden endgültig um ein menschenwürdiges Dasein brachten, traf mich am härtesten der Zwang, den gelben Stern zu tragen. Je stolzer ich mich damit der Welt zeigen wollte, umso mehr schämte ich mich, ihn tragen zu müssen.
Im Ghetto
In Cluj lebten damals 18.000 Juden. Anfang Mai erhielten wir den Befehl, vor unseren Wohnungen auf die Abfahrt ins Getto zu warten. Folgsam, wie wir seit Generationen waren, gehorchten wir der Obrigkeit, aber viele konnten nur mit Mühe auf die offenen Lastwagen klettern. Dies gab den bewaffneten Gendarmen Anlass zu Flüchen und Misshandlungen. Einem Gendarm fiel die Armbanduhr auf, die ich vor Kurzem zu meinem elften Geburtstag bekommen hatte. Er riss sie mir vom Handgelenk und steckte sie in seine eigene Tasche. Meinem geliebten Stoffhündchen erging es ähnlich.
Als Getto diente die stillgelegte Ziegelfabrik „Iris“. Schlafen mussten wir unter einem Dach ohne Mauern auf dem nackten Boden, wo sonst die Ziegelsteine zum Trocknen aufgestapelt wurden. Unsere Verpflegung war kläglich. Die Latrinen gruben wir uns selbst. Kommunikation zwischen Juden und Wachen war unmöglich und unter Juden durch Misstrauen und Feindseligkeit getrübt. Die Erwachsenen waren in Folge des jähen Sturzes aus ihren normalen Verhältnissen traumatisiert. Nur wir Kinder konnten uns manchmal als Teilnehmer an einem spannenden Abenteuer fühlen.
Nach einigen Tagen wurden die Gefangenen in Güterwagen weitertransportiert. Die meisten bestiegen die Züge ohne Protest, sei es, weil sie nichts von der nahenden Katastrophe ahnten oder weil sie sich selbst einredeten, dass die Deutschen und Ungarn unschuldigen Menschen nichts Böses antun würden. Das letztere war ein trauriger Irrtum, wie ein Bericht von Augenzeugen über meine eigene Familie zeigt. Wenn Transporte in Auschwitz ankamen, mussten sie an einem deutschen Mediziner vorbeidefilieren. Dieser schickte sie mit einer flüchtigen Geste nach rechts oder links. Rechts bedeutete Zwangsarbeit, oft bis zum Tod, links die Gaskammer. Meine Tante Sári wies er zuerst nach rechts, aber dann liess er sie auf ihre Bitte ihren Eltern nach links folgen.
Mein Vater erwartete das Schlimmste und war entschlossen, am Leben zu bleiben. Er bestach Polizisten und Beamte und entfloh mit mir aus dem Getto von Cluj nach Budapest, wo bedrohte Juden die besten Chancen zu überleben hatten. Ein mutiger christlicher Arzt bot uns Zuflucht in seiner Klinik, aber auf die Länge war das zu gefährlich, und wir mussten gehen. Einen Unterschlupf in einem Universitätsgebäude lehnte mein Vater ab, und nach dem Krieg hörten wir, dass eine alliierte Bombe alle dort Versteckten getötet hatte.
Die letzte Möglichkeit war die “Vaada”, ein illegales jüdisches Komitee, das zuerst jüdische Flüchtlinge aus benachbarten Ländern betreute und nach dem deutschen Einmarsch ungarische Juden vor dem Holocaust zu retten versuchte. Ihr Leiter war Rezsö Kasztner, ein zionistischer Aktivist aus Cluj. Sein Gegenspieler war Eichmann. Nach langwierigen Verhandlungen erklärte sich Eichmann bereit, gegen ein Lösegeld von 1000 US-Dollar pro Kopf knapp 1700 Juden nach dem britisch besetzten Palästina auswandern zu lassen. Zugleich bot er einem Mitarbeiter von Kasztner, Joel Brand, an, gegen Lieferung von 10,000 Lastwagen eine Million Juden am Leben zu lassen. Die Deutschen hofften vielleicht durch das Angebot mit den westlichen Alliierten in Friedensgespräche zu kommen, während die Juden die Einstellung der Deportationen durchsetzen wollten. Das Unmögliche - 1700 Menschen aus einer Bevölkerung von 800,000 ohne Ungerechtigkeit zur Rettung vor dem Tod auszuwählen - versuchte die Vaada durch Kategorien und Quoten zu erreichen: unsere Guppe enthielt neben reichen Juden, die zum Lösegeld für alle beitrugen, nicht nur die anerkannte jüdische Prominenz aus allen Lebensbereichen, sondern auch etwa Witwen und Waisen von Sklavenarbeitern, junge Pioniere oder Leute, die eine gute Gelegenheit zu ergreifen wussten, wenn sie sich lhnen anbot. Zu den Geschickten gehörte mein Vater, der den Leitern der Vaada so lange in den Ohren lag, bis einer ihm den Zettel in die Hand drückte, der die Zulassung zum Auffangslager in Budapest – und damit das Leben – bedeutete.
Am 30. Juni 1944 verliessen wir Budapest, entsetzt über die Viehwagen, in die man uns pferchte. Wir kämpften miteinander um Platz und Luft. Die beiden Eimer – der eine zum Trinkwasserbehälter, der andere zur Toilette bestimmt – waren zu klein. Zweimal schien es, als ob wir in den Tod führen. Die qualvolle Reise endete am 9. Juli, nicht in Palästina, sondern in Bergen-Belsen in Norddeutschland.
Bergen-Belsen war kein Vernichtungslager. Ursprünglich als Aufenthaltsort für 5,000 Juden geplant, die die Deutschen als Austauschobjekte benutzen wollten, verwandelte es sich allmählich in eine Ablage für Massen, die ohne jegliche Versorgung in den letzten Zügen lagen. Als die Briten am 15. April 1945 das Lager befreiten, waren vor den gleichgültigen Augen der Deutschen 50,000 Menschen an Hunger und Typhus gestorben.
Heute weiss jeder, wie ein Konzentrationslager aussah, aber als wir erstmals vor den öden Barackenreihen, den Wachtürmen mit ihren drohenden Maschinengewehren, den endlosen Stacheldrahtzäunen, den Kaminen der Krematorien und den ausgezehrten Gestalten in Häftlingskleidern standen, waren wir verblüfft und zutiefst erschrocken.
Da wir für die Deutschen eine kostbare Handelsware darstellten, wurden wir etwas besser behandelt als die übrigen Gefangenen. Wir trugen unsere eigenen Kleider. Familienmitglieder wurden nicht voneinander getrennt. Wir mussten keine Sklavenarbeit leisten. Die schlimmsten Krankheiten blieben uns erspart. Die Wachen durften uns nicht misshandeln. Wir genossen eine gewisse Autonomie in unseren alltäglichen Angelegenheiten. Kurz: wir waren nicht für den Tod bestimmt. Dennoch waren für uns die fünf Monate, die wir im Lager verbrachten, im Grunde nichts als eine lange Tortur.
Wir hatten dauernd Hunger. Die Baracken waren dunkel, feucht, überfüllt, übelriechend, voller Schmutz und Ungeziefer. Die Enge des Lebensraumes und der Mangel an allen lebenswichtigen Gütern zehrten an unseren Nerven. Wir stritten und stahlen voneinander. Die grösste seelische Belastung, war, dass wir nicht wussten, was sich in der Aussenwelt abspielte, wie es unseren Nächsten daheim ging und was uns selbst bevorstand.
Den Erwachsenen war es klar, dass die Deutschen uns jederzeit umbringen konnten. Wir Kinder dachten mehr an unsere improvisierten Spiele. Ich hatte Tagträume, in denen ich in Palästina, der Schweiz und anderswo fern von Bergen-Belsen aufregende Abenteuer bestand. Als ich einem Gefangenen im nächsten Teillager ein Päckchen Vitamintabletten vom Roten Kreuz durch den Stacheldraht überreicht hatte, glaubte ich, dass eine Wache mich erschiessen würde. Aber er kümmerte sich nicht um mich.
Im nasskalten Herbst hatten sich die widersprüchlichen Gerüchte über unsere ersehnte Freilassung gehäuft. Seit dem Sommer waren die Verhandlungen zwischen Kasztner und Eichmann weitergegangen. Wichtige Rollen spielten ferner der SS-Obersturmbannführer Kurt Becher, Eichmanns Rivale, sowie Saly Mayer, der Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes und Vertreter des American Jewish Joint Committee in der Schweiz. Sie trafen sich meist in Budapest, aber manchmal auch auf einer Rheinbrücke zwischen dem schweizerischen St. Margrethen und dem österreichischen Höchst. Trotz persönlicher Spannungen machten sie Fortschritte, und wir bekamen plötzlich den Befehl zum Abmarsch.
Auf dem Bahnsteig in der Lüneburger Heide, wo wir fünf Monate zuvor angekommen waren, überstanden wir einen heftigen Schneesturm, bevor wir einen Zug bestiegen, der diesmal aus Personenwagen bestand. Die Fahrt durch ein zerbombtes Deutschland dauerte vier Tage. Viele Passagiere litten an Überforderung ihres Magens, da sie bis anhin gespeicherte Vorräte verschlungen hatten. Irgendwo stieg mein Vater aus, um für mich Wasser zu suchen, aber einer der halbwüchsigen Burschen, die die Deutschen im späten Stadium des Kriegs als Kanonenfutter in SS-Uniformen steckten, trieb ihn mit einer Ohrfeige in den Waggon zurück. Ich döste stundenlang am Fenster vor der zunehmend gebirgigen Landschaft, die langsam hinter einem Vorhang aus fallendem Schnee versank.
Schliesslich hielt der Zug am Bodensee, der die Grenze zwischen dem verdunkelten Deutschland und der hell erleuchteten Schweiz bildete. Nach ein paar Stunden, in denen die Deutschen von Kasztner eine Erhöhung des vereinbarten Lösegeldes verlangten, stiegen wir in einen Schweizer Zug um und wurden wenige Minuten später von freundlichen Schweizer Soldaten und Helferinnen vom Roten Kreuz in St. Margrethen begrüsst. Es war ein Uhr früh am 7. Dezember 1944. Im nahen St. Gallen standen für uns ein Frühstück und bequeme Matratzen in einer warmen Kaserne bereit. Erst später nahmen die Behörden unsere Personalien auf, nicht ohne uns mit einer Nummer auf der Brust zu fotografieren und durch Fingerabdrücke zu identifizieren.
Nach einem kurzen Aufenthalt in St. Gallen fuhren wir quer durch die Schweiz nach Caux, einem hoch über Montreux am Genfer See gelegenen Dorf. Ich staunte über so viel Schönheit und kämpfte gleichzeitig gegen den Brechreiz in den scharfen Kurven der Bahn.
Während des Kriegs kamen wenig Touristen in die Schweiz. Deshalb wurden viele Hotels zu Flüchtlingslagern umfunktioniert – für uns das Caux Palace, das damals Esplanade hiess und einmal das luxuriöseste Hotel der Schweiz gewesen war. Allerdings entsprachen die Zustände im Hotel keineswegs der imposanten äusseren Erscheinung. Die Zimmer waren trotz ihrer Grösse und Vielzahl überfüllt. Geheizt wurde mitten im Winter nicht. Ein skrupelloser jüdischer Verpflegungsoffizier verkaufte für die Gruppe bestimmte Lebensmittel zu seinem eigenen Profit. Es gab viel Streit, schwere Erkrankungen und mehr Selbstmorde als in Bergen-Belsen. Die Euphorie über unsere Befreiung war neben den Berichten über den Holocaust schnell verblasst.
Als die Schweizer Regierung beschloss, uns nach Algerien auszuschaffen, erhob sich ein Aufschrei der Empörung in Caux und in der Presse ausserhalb. Im grossen Saal des Hotels fanden lautstarke Protestversammlungen statt, in denen dem Beschluss der Regierung einstimmig der Gehorsam verweigert wurde. Ich trug mit den Kapseln einer Spielzeugpistole zum Lärm bei. Zuletzt gab die Regierung der öffentlichen Meinung nach und verzichtete auf unsere unverzügliche Ausweisung. Ich kehrte zu meiner friedlichen Lieblingsbeschäftigung zurück, indem ich die tiefsten Untergeschosse des Hotels erforschte oder zwischen den Ziertürmchen auf dem Dach herumkletterte.
Dringend stellte sich die Erziehungsfrage der geretteten Kinder. Eine Antwort darauf gaben die „Jugend-Aliah-Heime“, die ihre Aufgabe in der Vorbereitung junger Menschen auf die Auswanderung nach Palästina und auf das Leben in einem Kibbutz erblickten. Neben der landwirtschaftlichen Ausbildung sollten diese Internate das gesamte für die Bürger eines modernen jüdischen Staates notwendige Wissen vermitteln. Allerdings ging es ihnen weniger um objektive Belehrung als um Ideologie, die – im Rahmen eines militanten Zionismus – alle Schattierungen von Links bis Rechts umfassen konnte. Ich wurde im Frühjahr 1945 in ein Jugend-Aliah-Heim in Bex im Kanton Wallis geschickt, wo man Kinder meines Alters durch Gesang und Spiel mit den Grundprinzipien der sozialistischen Hashomer-Hatzair-Partei zu indoktrinieren versuchte.
Für meinen Vater und mich war diese Zeit besonders angstvoll. Palästina war noch von den Briten besetzt, die Kindern bereitwillig die Einreise erlaubten, aber die Anträge der Erwachsenen auf die sogenannten „certficates“ oft ohne Antwort liessen. Der Gedanke einer solchen Distanz zwischen uns war uns beiden unerträglich. Mein Vater nahm deshalb Zuflucht zu seiner Gewohnheit, sich gleichzeitigen der irdischen und der himmlischen Sphäre zu versichern, indem er sowohl den Psychiater Leopold Szondi als auch den Rabbiner Joel Teitelbaum konsultierte und dann beschloss, für mich eine neue Schule zu suchen.
Die Schule, in die ich im August 1945 eintrat, war ein kleines Privatinternat mit ein paar Dutzend Schülern und Schülerinnen und einer Handvoll Personal. Sie wurde von Paul und Edith Geheeb geleitet, die aus Deutschland vor den Nazis in die Schweiz geflüchtet waren. Sie Obwohl sie École d’Humanité hiess, war sie deutschsprachig. Ich verbrachte zwei Jahre hier. Ein Jahr nach meiner Ankunft übersiedelte die Schule vom malerischen Schwarzsee bei Fribourg nach Goldern-Hasliberg in der grossartigen Berglandschaft des Berner Oberlandes.
Heute nennt man diese Art Schule anti-autoritär. Das Motto der École hiess „Werde der du bist“. Sie wollte die inneren Anlagen der ihr anvertrauten Kinder fördern, statt sie übermässig von aussen zu beeinflussen. Anders gesagt legte sie ebenso viel Gewicht auf die Menschliche wie auf die fachliche Entwicklung der Schüler und Schülerinnen, die ihrerseits beträchtlichen Einfluss auf Inhalt und Methoden des Unterrichts ausüben konnten.
Die meisten von uns brachten aus dem Krieg oder zerrütteten Familien Wunden mit sich, für die Toleranz, Verständnis und zwangloser Kontakt zwischen Kindern und Erwachsenen die besten Heilmittel darstellten. Die Lehrer arbeiteten für niedrige Gehälter, und die Gebühren der Schüler wurden oft von wohltätigen Organisationen bezahlt.
Ich kam mit zwölf Jahren in die École und sprach nach wenigen Wochen fliessend Deutsch. Das Wandern und Skifahren in der reinen Luft erhöhten meine körperlichen Kräfte. Begegnungen mit klassischer Musik und Literatur erweckten meinen Sinn für kulturelle Werte. Die herrliche Umwelt flösste mir eine tiefe Liebe zu Bergen ein. Das Feingefühl der Erwachsenen befreite mich allmählich von der Angst.
Aber mein Vater meinte, dass ich zu wenig lerne, und beschloss, mich im Herbst 1947 nicht in die École zurückkehren zu lassen.
Während ich in der École d’Humanité war, war mein Vater auf die Idee gekommen, seinen eigenen Aufenthalt in der Schweiz nützlich zu gestalten, indem er die Herstellung von Käse erlernte. Ab 1. April 1946 absolvierte er in sechs Monaten einen Kurs am Landwirtschaftlichen Institut Grangeneuve bei Fribourg und arbeitete kurz als Praktikant in Oberhünenberg und Horw im Kanton Luzern. Für seinen Unterhalt kam der VSJF auf. In seinem Diplom des Instituts wird er als ein „gewissenhafter Arbeiter und Student“ beschrieben, dessen „Haltung man nur loben kann“. Im August 1947 fuhren mein Vater und ich nach Cluj, um aus eigener Erfahrung festzustellen, ob wir jemals wieder in der Stadt unserer großenteils ermordeten Familie leben und vielleicht eine Käsefabrik gründen könnten. Die Weltpolitik hatte uns sowohl der rumänischen wie der ungarischen Staatsbürgerschaft beraubt, aber wir hatten einen „Nansenpass“ für Staatenlose, mit dem wir bis nach Ungarn gelangten. Von dort wurden wir bei Nacht und Nebel von einem Zigeuner über den Grenzfluss Tisza nach Rumänien geschmuggelt. Mir machte das Abenteuer besonders Spaß. Ich war inzwischen vierzehn geworden.
Wir versuchten, neue Wurzeln in unserer alten Stadt zu schlagen. Aber nach der Hyperinflation, die mich zum Millionär machte, und der Machtergreifung durch die Kommunisten, deren Folgen mein Vater voraussah, war von Bleiben keine Rede mehr. Ein anderer Schlepper brachte uns vor den Augen bestochener Grenzwächter nach Ungarn zurück, und zu Weihnachten 1946 waren wir mit dem legitimen Ausländerpass wieder in der Schweiz. In unsere Mäntel hatten wir die Felle von vierzig Mardern und acht Bibern eingenäht. Durch deren Verkauf erhielt mein Vater ein bescheidenes Kapital, während für mich die Umwandlung in einen Schweizer ihren Anfang nahm.
Für meinen Vater verliefen die nächsten Jahre unter dem Zeichen eines zermürbenden Kampfes gegen die Flüchtlingshilfswerke. Da er kein Einkommen hatte, wurden sowohl er als ich von verschiedenen Organisationen unterstützt, unter denen der Verband Schweizerischer Jüdischer Flüchtlingshilfen (VSJF) und das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) die wichtigsten Rollen spielten. Die Zuwendungen erhielten wir in kleinen Beträgen, für die mein Vater immer wieder demütigende Gesuche einreichen musste, ob es sich um die Verpflegung und die monatliche Miete für ein möbliertes Zimmer oder um die zahlreichen Alltagsauslagen, etwa Schulbücher für mich oder Kleiderreparaturen für ihn selbst handelte.
Die Organisationen versuchten oft, die Gesuche abzulehnen oder erst nach kleinlichen bürokratischen Schikanen zu gewähren. Wie nahe der Verzweiflung dies meinen Vater trieb, lässt sich etwa in seinem Brief vom Frühling 1948, erkennen, in dem er den VSJF um Hilfe anfleht, weil er „schon überhaupt nicht von was zu leben habe“.
Die Organisationen taten sich aus zwei Gründen schwer mit Unterstützungen. Einerseits waren ihre Mittel tatsächlich beschränkt, andererseits wollten sie prinzipiell auf meinen Vater Druck ausüben, für sich eine Stelle im Ausland zu suchen und mich allein auswandern und nach einer kurzen Lehre ebenfalls im Ausland arbeiten zu lassen.
Aber mein Vater war über 50 Jahre alt und infolge einer schweren Verletzung aus dem ersten Weltkrieg nur begrenzt arbeitsfähig. Auch hatte er andere Pläne für mich. Manche Organisationen oder einzelne Amtsträger zeigten Verständnis für seine Lage, aber anderen mangelte es an Einfühlung und Takt.
Ein Arzt im Kantonsspital Zürich etwa schrieb ein ausführliches Gutachten über die verheerende „Knieschussverletzung“ meines Vaters, schloss aber mit der überraschenden Behauptung, dass seine Wunde „als geheilt zu betrachten“ sei. Noch einseitiger behauptet der gleiche Arzt in einem anderen Gutachten, dass mein Vater trotz seines Zustands fähig sei, „sich im Auslande noch eine Existenz aufzubauen“.
Erstaunlich war auch ein Brief, in dem anderthalb Jahre später ein hoher Angestellter des VSJF dem beinah invaliden Flüchtling, der all seinen Besitz und fast alle seine Angehörigen verloren hatte und mit knapper Not dem Tod im Konzentrationslager entgangen war, erklärte, dass es der Organisation nicht um die „Lösung eines finanziellen Problems“ gehe, wenn sie ihn ins Ausland schicken wolle, sondern um ein „moralisches Problem“, das er selbst lösen müsse, indem er „so bald wie möglich“ mit eigener Arbeit seinen Lebensunterhalt verdiene. Mich wollten die Organisationen bis zur Beendung einer einjährigen Lehre in irgendeinem Handwerk unterstützen, während mein Vater wünschte, dass ich eine Mittelschule besuchte und mit der Matur abschloss. Er hoffte gleichzeitig, mir eine bessere Ausbildung verschaffen und zusammen mit mir in der Schweiz bleiben zu können. Was der Moralprediger vom VSJF meinte, kann man sich vorstellen, wenn man liest, wie er „die Möglichkeit einer Berufsausbildung [. . .] sowohl in USA und Australien als auch in Israel“ preist, aber die Schweiz nirgends erwähnt.
Trotz immer dringenderer Mahnungen blieben wir in der Schweiz, und die Organisationen schöpften allmählich Verdacht, dass mein Vater geheime Einkommensquellen gefunden habe. Tatsächlich gelang es ihm, während der 1950er Jahre geschäftliche Beziehungen anzubahnen, von denen wir nicht nur leben, sondern auch erhaltene Unterstützungen zurückzahlen konnten.
Allmählich verschaffte sich mein Vater auch bei wichtigen Stellen Gehör durch ein Gemisch von Argumenten, Gefühlsappellen und bloßer Beharrlichkeit. Ein typisches Beispiel seiner Methode ist sein Brief vom 24. August 1948 an den VSJF, in dem er – sei es aus Berechnung oder aus väterlicher Voreingenommenheit – erklärt, dass ich „überdurchschnittlich begabt“ und durch eine herausragende Intelligenz „für eine intellektuelle Laufbahn prädestiniert“ sei.
Der unermüdliche Einsatz von meinem Vater brachte Früchte. Wir blieben zusammen in Zürich, und die Rekurskommission des VSJF entschied im August 1948, dass es „eine besondere Härte“ wäre, „Vater und Sohn jetzt zu trennen“. Am 24. Oktober 1949 bestätigte sie förmlich, dass ich weiterhin unterstützt werden sollte, bis ich zur Auswanderung bereit sei. Inzwischen war mein Vater zur Überzeugung gelangt, dass die beste Schule für mich das Kantonale Realgymnasium Zürich sein würde.
Ich war mit vierzehn Jahren zu alt für die erste Klasse des Realgymnasiums, aber ich hatte durch den Holocaust zu viel Lehrstoff verpasst, um in der dritten Klasse anzufangen. So musste ich eine Aufnahmeprüfung ablegen. Seit Winter 1947 besuchte ich schon die private „Schule Dr. A. Held”, die sich auf Vorbereitung für Prüfungen dieser Art spezialisierte. Dr. Held selbst war nicht nur Leiterin der Schule, sondern unterrichtete auch selbst und war daher bereits Anfang 1948 in der Lage, aus eigener Erfahrung den VSJF zu versichern, dass „Ladislaus. laut Aussagen aller ihn prüfender Lehrer, wirklich den Kopf zum Studieren hat“. Wie einst in der Primarschule hatte ich mich auch in Dr. Helds Schule als ein begabter und fleißiger Schüler erwiesen, und bereits am 4. April 1948 konnte mein Vater dem VSJF melden, dass „Ladislaus die Prüfung für die Aufnahme in die künftige 3. Klasse des Realgymnasiums bestanden“ habe.
Ich besuchte das Realgymnasium Zürich viereinhalb Jahre lang mit gemischten Gefühlen. In der strengen Disziplin der Kantonsschule vermisste ich die Freiheit und Freundlichkeit der École. Bei den ausschließlich männlichen Schülern und Lehrern suchte ich umsonst das weibliche Element, das in einer gemischten Schule die Atmosphäre verfeinert hätte. In Folge meiner frühen Erlebnisse fühlte ich mich den ahnungslosen Schweizern in ihrer geschützten Umgebung überlegen, aber gleichzeitig beneidete ich sie um ihre Sicherheit und Ruhe. Obwohl ich meine Geschichte für mich behielt, spürte man Erinnerungen an alte Schmerzen hinter meinem Schweigen. Wo ich Wohlwollen antraf, blühte ich auf, aber im Allgemeinen neigte ich zu Schüchternheit. Meinen verschiedenen Talenten verdankte ich damals wie später manchen Erfolg, aber ich hätte vielleicht mehr erreicht, wenn ich selbstbewusster aufgetreten wäre. In meine Gymnasialzeit fallen meine intensivsten Besuche bei Leopold Szondi, der mich in Erziehungs-, Berufs- und Lebensfragen beriet.
Im Unterricht gelang es mir, die Lücken in meinem Wissen je nach dem Fach mehr oder weniger zu schliessen. Am nächsten lagen mir nach wie vor die Fremdsprachen und Deutsch. Dass ich trotz meiner bitteren Erfahrungen im Holocaust ausgerechnet von der deutschen Sprache und Kultur so stark angezogen wurde, rechnete man mir als Zeichen der Aufgeschlossenheit an. Mein Benehmen in der Schule war gut, meine Hausaufgaben machte ich, sobald ich zu Hause ankam. Der einzige Sport, den ich genoss, war das Skifahren. Der Religion war ich schon lange abtrünnig geworden. Gelegentlich träumte ich von einer Karriere als Violinist, aber dazu reichte mein Talent nicht aus. Erst später merkte ich, dass ich mich am wohlsten fühlte, wenn ich schrieb.
Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus gab es auch in der Schweiz. Wenn mein Vater sich nach einem möblierten Zimmer erkundigte, bekam er oft die unwahre Antwort „schon vergeben”, und als ich einmal meine Schulbank mit Schnitzereien verzierte, warf mir ein Lehrer mangelnde Dankbarkeit für die „Aufenthaltsbewilligung bei uns” vor. Als ich mich wie andere Gymnasiasten um Weihnachtsarbeit bei der Post bewarb, sagte man mir, dass Ausländer nicht erwünscht seien. Aber über gravierende Fälle von Diskriminierung in der Schweiz hatten mein Vater und ich nur selten zu klagen.
Trotz der gegenseitigen Zurückhaltung befreundete ich mich mit einer Handvoll Klassenkameraden, mit denen ich Kinos, Theater und die damals beliebten alkoholfreien Tea Rooms besuchte, manchmal in gemieteten Booten auf dem Zürichsee segelte, Wanderungen machte und Ski fuhr. Einmal verspielte ich das Geld, das mein Vater mir für die Skischule gegeben hatte, im Casino in Arosa. Ein anderes Mal schlich mir mein Vater in ein Café in der Altstadt nach, fand mich aber nur in einer Gruppe von Schülern, die in Wolken von Cigarillo-Rauch gehüllt lateinische Verben büffelten und nicht einmal den Kellnerinnen nachstellten.
Die gewöhnlichen Aufregungen der Pubertät und Adoleszenz suchten mich wie jeden jungen Menschen heim und wurden für mich durch die Nöte des Flüchtlingslebens und die Nachwirkungen der Deportation noch mehr erschwert. Aber während mein Vater sich langsam in Zürich die materielle Existenz aufbaute, die seine Betreuer lieber im Ausland gesehen hätten, lernte ich die Stadt kennen, die ich später so vermisste und endlich wieder fand. Als Erwachsener sollte ich tief bedauern, dass ich – wie viele meiner Schicksalsgenossen – selten mit meinem Vater über unsere gemeinsamen Leiden gesprochen und ihm nie für die Opfer gedankt habe, ohne die ich den Holocaust nicht überlebt hätte.
Im Sommer 1952 bestand ich die kantonale und eidgenössische Maturitätsprüfung. In den sprachlichen Fächern waren meine Noten wie erwartet ausgezeichnet, in den anderen, außer Mathematik, genügend.
Aus dem Gymnasium entlassen, wusste ich nicht, was ich mit mir anfangen sollte. Mein Vater hätte es wie die Mehrheit jüdischer Eltern gern gesehen, wenn ich ein Arzt, Anwalt oder Ingenieur geworden wäre, aber ich fand die Lehrpläne unattraktiv und fühlte mich erst einigermassen zu Hause, als ich im Foyer der Universität vor der Liste der geistes- und sprachwissenschaftlichen Veranstaltungen stand.
Nach langem Schnuppern und Zögern zwischen den Hörsälen und der Uni-Bar besann ich mich auf meine besten Schulfächer und immatrikulierte mich im Herbst 1952 für Anglistik als Hauptfach und Germanistik als Nebenfach.
Während vieler Semester trieb ich mich in der Uni herum, belegte und schwänzte viele Vorlesungen, genierte mich, als der Professor einmal anbot seinerseits zu schweigen, damit ich ungestört mit meinem Nachbarn schwatzen konnte. In höheren Semestern beteiligte ich mich aktiver an den Seminaren, bis unter den anderen Studierenden der Spruch „Löb weiss alles“ die Runden zu machen begann.
In der englischen Sprachwissenschaft profitierte ich sowohl von Eugen Dieths traditionellem historischen Ansatz als auch von Ernst Leisis moderner semantischen Methode. Breite Ansichten englischer und amerikanischer Literatur aus verschiedenen Epochen verdankte ich Heinrich Straumann, der auch mein Doktorvater wurde. Ein Missverständnis mit Emil Staiger endete glücklich im Examen mit einer von beiden Teilnehmern geschätzten Diskussion über Schweizer Autoren.
Doch interessierte mich die theoretische Seite des Sprach- und Literaturstudiums weniger als deren praktische Anwendung. Dank der Grosszügigkeit meines Vaters und der damaligen Studienordnung musste ich nicht zum Abschlussexamen und ins Berufsleben eilen, sondern konnte mir Zeit lassen, mit – nicht immer begeisterten – Mitstudierenden Theaterstücke aufzuführen oder selbst geschriebene, redigierte und vervielfältigte Magazine herauszugeben. Gleichzeitig begann ich - vor allem im Tages-Anzeiger und im Du - Reiseberichte, Buch¬rezensionen, Theaterkritiken und Kurzgeschichten zu veröffentlichen. Diese Unternehmen mögen dilettantisch gewesen sein, aber als Übungen in Kreativität, Disziplin und Initiative erwiesen sie sich als eine wertvolle Vorbereitung auf die Welt der Erwachsenen.
Eine Prüfung nicht ganz akademischer Art bestanden mein Vater und ich zusammen fast zehn Jahre nach meiner Matur. Mein Vater hatte sich seit unserer Rumänienreise intensiv um Dauerasyl in der Schweiz bemüht, aber ohne Erfolg. Dagegen wurden Vater und Sohn zusammen am 12. Dezember 1961 Bürger der Stadt Zürich und damit der Schweiz. Offenbar waren die Recherchen der Detektive von Gemeinde, Kanton und Bund sowie das Urteil der Kommission von Zürcher Stadträten über unsere Tauglichkeit zum Schweizer positiver ausgefallen als die Ansichten gewisser Vertreter der jüdischen Flüchtlingshilfen. In der Prüfung im Stadthaus über Geschichte, Einrichtungen und Wertvorstellungen der Schweiz sprach ich selbstverständlich, wenn auch mit leicht ungarischem Akzent, Schwyzerdütsch, während mein Vater seine mühsam auswendig gelernten rot und blau unterstrichenen Notizen in nicht ganz grammatischem Hochdeutsch wiedergeben durfte.
Das obligatorische Auslandsjahr der Universität verbrachte ich in Cambridge, wo ich hauptsächlich an Veranstaltungen über englische Literatur teilnahm. Das über Jahrhunderte angesammelte Wissen und der Kontakt mit den besten Köpfen des Landes ermunterten mich zu intensivem Studium. Noch mehr war ich hingerissen von der studentischen Subkultur, die einer jeunesse dorée erlaubte, jedem Interesse, von Politik oder Sport bis zum Veganertum oder Trampoline springen, mit Gleichgesinnten zu frönen. Die Schönheit der Colleges am Fluss vollendete das Idyll. Zurückblickend merkte ich, dass diese glänzenden Wissenschaftler und diese bezaubernde Studentenschaft auch kleinlich, engstirnig und snobistisch sein konnten, aber als ich wieder in Zürich eintraf, hatte ich wissenschaftlich wie persönlich viel von Cambridge gelernt.
In meinen letzten Semestern in Zürich konzentrierte ich mich auf meine Dissertation. Das Thema hiess „Mensch und Gesellschaft bei J. B. Priestley“. Auf Priestley war ich gestossen, als ich ein Stück für eine Studentenaufführung suchte. An den vielen Dramen, Romanen und Aufsätzen dieses Autors schätzte ich besonders den Humor und die Einsicht in gesellschaftliche Entwicklungen.
Nachdem ich alle Klausuren und mündlichen Prüfungen bestanden hatte, promovierte ich am 25. Mai 1962 zum Dr. phil. mit der Note “magna cum laude”.
Nach der Promotion wusste ich wieder einmal nicht, was ich werden wollte. Der Dr .phil.-Grad in Fremdsprachen führte normalerweise zum Beruf eines Mittelschullehrers, und ich hatte schon als Hilfslehrer gearbeitet und Privatstunden erteilt. Ich legte also die didaktische Prüfung ab und erhielt am 15. Juli 1963 das “Diplom für das höhere Lehramt” in Englisch und Deutsch mit der Durchschnittsnote 29/30.
Während ich in Zürich studierte, hatte sich in Israel eine Tragödie abgespielt, deren Bedeutung mir erst später in vollem Umfang klar wurde. Im Jahr 1953 wurde mein Retter aus Bergen-Belsen, Rezsö Kasztner, der Kollaboration mit Eichmann beschuldigt. Im darauffolgenden Ehrverletzungsprozess bestätigte der Richter in erster Instanz die Anklage. Im Berufungsverfahren sprach das Oberste Gericht von Israel Kasztner frei, aber vier Jahre später wurde er von einem jüdischen Extremisten in Tel Aviv erschossen. Die Affäre hatte enge Beziehungen zur israelischen Politik und ist heute noch heftig umstritten. Ihre Schockwelle erreichte mich erst allmählich, aber umso nachhaltiger.
Im Sommer 1963 war ich vorübergehend als Redaktor in der Zürcher Niederlassung der United Press International (UPI) angestellt. Spannend war der Eichmann-Prozess Jerusalem, den ich atemlos in den Meldungen am Ticker verfolgte. Aber im Grunde forderte mich die Arbeit zu wenig. Im September 1963 trat ich die Stelle eines Lektors für Deutsch an der University of Sussex in Brighton an. Ich wollte nur ein Jahr in England verbringen, blieb jedoch bis 2008. zehn Jahre über das Pensionsalter hinaus.
Die University of Sussex war 1961 mit überhitzter Publizität eröffnet worden. Als die erste „neue Universität“ nach dem zweiten Weltkrieg war sie für radikale Reformen berühmt. Wie sonst nur in “Oxbridge” wurden die Studierenden in Sussex allein oder zu zweit unterrichtet. Statt der in England üblichen Trennung der Disziplinen zeichnete Sussex sich durch Interdisziplinarität der Lehre und Forschung aus. Der Modernität der akademischen und administrativen Strukturen entsprach die für damals revolutionäre Architektur des Campus.
Nach einer Phase sexueller Befreiung unter dem Motto „Swinging Sixties“ und linker Militanz unter Einsatz von viel roter Farbe in den 60er Jahren brachten die wirtschaftlichen und politischen Krisen des nächsten Jahrzehnts eine Ernüchterung, die bis heute andauert.
In dieser unsicheren Atmosphäre arbeitete ich mehr als fünfzig Jahre und durchlief alle Stufen der akademischen Rangleiter vom Lektor bis zum Professor. Ich unterrichtete deutsche Sprache, hielt Vorlesungen und Seminare über deutsche und englische Literatur und veröffentlichte literaturwissenschaftliche Bücher und Aufsätze. Ich war Leiter der Fachgruppe Deutsch, Pro-Dekan, Referent für Beziehungen zu europäischen Universitäten und ehrenamtlicher Sekretär der Konferenz von Germanisten in Grossbritannien und Irland. Ich lehrte als Gastprofessor an der Universität Konstanz und am Middlebury College in Vermont, USA. Als in den 1990er Jahren Sussex ein Zentrum für deutsch-jüdische Studien einrichtete, begann ich mich intensiver mit jüdischer Literatur und Geschichte zu beschäftigen.
Nach meiner Pensionierung schrieb ich auf Englisch und Deutsch das autobiografisch-historische Buch Dealing with Satan (London 2008) bzw. Geschäfte mit dem Teufel (Wien, Köln, Weimar 2010) über meine Rettung als Kind aus dem KZ Bergen-Belsen durch die Kasztner-Aktion und erhielt dafür den “Austrian Holocaust Memorial Award 2012”. Ich halte regelmässig Vorträge über den Holocaust in Universitäten oder Schulen, bei Zusammenkünften von Überlebenden oder öffentlichen Gedenkfeiern, auf Deutsch, Englisch oder Französisch. Ich habe ferner wichtige Werke aus dem Ungarischen (z.B. Béla Zsolt, Nine Suitcases) und Deutschen (z.B. Otto Weininger, Sex and Character; Friedrich Nietzsche, Writings from the Early Notebooks; Kurt Guggenheim, All in All) ins Englische übersetzt.
Das Jahr 1970 hatte ein Nachspiel zur Prozedur von 1961 gebracht. Ich erhielt die britische Nationalität mit etwas weniger Aufwand als seinerzeit die Einbürgerung in der Schweiz, aber mit einem bemerkenswertden Zusatz über meine „Treue zur Krone“.
Es gab auch Enttäuschungen. Ein Buch, das ich im Auftrag eines Verlegers geschrieben hatte, wurde nie veröffentlicht, weil ich dem Verleger nachträglich keinen Beitrag zu seinen Spesen leisten konnte. Eine Intrige um die Berufung einer Lehrkraft aus dem Ausland und die Beförderung eines einheimischen Kollegen kostete mich schuldlos fast meine eigene Stelle. Am tiefsten wurde ich verletzt, als ich mich in einer Wahl zu einem hohen Amt erst nach gewissen Zusicherungen als Kandidat aufstellen liess, aber schliesslich die Person, die mir am lautesten ihre Unterstützung versprochen hatte, sich selbst in das Amt manövrierte. Das sollte für die hässlichen Seiten des Universitätslebens ausreichen. Zu den schöneren gehören die vielen Briefe von dankbaren Studenten und Studentinnen aus aller Welt.
Im Jahr 2016 wählte ein Teil des irregeführten englischen Volkes in einem zweifelhaften Referendum den Austritt des Vereinigten Königsreichs aus der Europäischen Union. Seit dem 2. April 2017 lebe ich wieder in Zürich.
Ich werde oft eingeladen, an Schulen, Universitӓten und anderswo Vortrӓge über meine Erinnerungen an den Holocaust zu halten. Als ich in England lebte, trat ich hӓufig im Einvernehmen mit dem Holocaust Educational Trust auf. Seit ich wieder in Zürich wohne, arbeite ich von Zeit zu Zeit mit der Gamaraal-Stiftung und ihrer Prӓsidentin Anita Winter.
Meine Vortrӓge enden normalerweise mit Fragen aus dem Publikum, die manchmal recht knifflig werden können. So ergab sich eine besonders anregende Diskussion, als jemand fragte: „Wie können wir unsere schlechte Welt besser machen, als sie ist?“ Meine Antwort bestand aus einer kurzen Aufforderung zum Handeln: „Kӓmpft für die Wahrheit“, und einer ausführlicheren Analyse der tragischen Geschichte von Rezsö Kasztner.
Rezsö Kasztner war ein zionistischer Aktivist aus Cluj in Transilvanien, der mit Adolf Eichmann, dem „Architekt des Holocaust“, ein Geschäft machte, das 1944 zur Freilassung von 1700 ungarischen Juden (darunter ich mit elf Jahren) aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen in die Schweiz führte.
Um Kastner entbrannte ein heftiger Streit, der bis heute andauert. Er galt entweder als ein heroischer Lebensretter oder als Mitschuldiger am Tod einer halben Million Juden aus Ungarn, denen er verschwiegen habe, was sie in Auschwitz erwartete, um Eichmann ihre Deportation zu erleichtern. In einem Ehrverletzungsprozess in Israel wurde Kasztner vom Zeugen zum Kollaborateur umfunktioniert und zusammen mit seiner Frau und Tochter einer gnadenlosen Hexenjagd ausgeliefert. Das Oberste Gericht sprach ihn frei von der Kollaboration, aber inzwischen war er in Tel Aviv von einem jüdischen Extremisten erschossen worden.
Als ich von der University of Sussex pensioniert wurde, schrieb ich ein Buch über die Affäre unter dem Titel Dealing with Satan. Rezsö Kasztner’s Daring Rescue of Hungarian Jews (deutsch Geschӓfte mit dem Teufel) . Ich wollte mit dem Buch keineswegs meinen Retter entlasten, aber meine Bemühungen um strenge Objektivität hatten ein positives Bild von ihm erzeugt, das meinen eigenen Ansichten entsprach.
Die meisten Rezensenten waren mit mir einverstanden. Einer nannte das Buch „ausgewogen und gut geschrieben“. Ein anderer lobte meine „Ruhe und Mitgefühl“. Der dritte pries die „Exaktheit“, mit der ich „die Behauptung, dass Kasztner nur seine Verwandten und Kollegen gerettet habe, widerlege“. Der vierte schätzte die Art, wie ich zwar „mit Kasztner sympathisierte“, aber ohne Parteilichkeit die Tatsachen mitteilte, „auf die der Leser sein eigenes Urteil gründen kann“. Übrigens habe ich mit diesem Buch den “Austrian Holocaust Memorial Award 2012“ gewonnen.
Es gab auch Widerspruch. Ein besonders krasses Beispiel aus der Presse kann für alle stehen: „Kasztner und seine Bande waren die widerlichsten ungarischen Juden, die die Geschichte je gekannt hat. Und das Buch gehört auf den Abfallhaufen zum Recycling“. Bei meinen Vorträgen wurde ich von einzelnen Zuhörern auch kritisiert. Eine Professorin unterbrach mich, um die Universität, deren Gӓste wir waren, zu rügen, dass sie einen Lügner wie mich reden liess. Eine bekannte Amateur-Holocaustforscherin behauptete, dass mein Vater und ich nur deshalb noch lebten, weil wir reich waren und für unsere Rettung zahlen konnten. Ein zorniger Mann wollte mir Schuldgefühle einflössen, indem er einen kausalen Zusammenhang zwischen meiner Rettung und dem Tod von Tausenden anderer Elfjähriger erfand. Ein Student drohte, die Vorlesung zu stören, aber als ich ihn einlud, seine Einwände vor dem Publikum vorzutragen, erinnerte er sich plötzlich an einen dringenden Termin und ging. Der Moderator gab mir in allen diesen Fällen Recht. Kasztners Verhalten lässt sich nicht leicht beurteilen. Ob er als Verräter oder Held dargestellt wird, hängt von den Vorurteilen und Eigeninteressen der Darstellenden ab. Nach zwei Prozessen und jahrelangen Kontroversen zeigt sich keine Aussicht auf eine Verständigung zwischen den Parteien. Neutrale Stellungnahmen sind selten. Aussagen mit potentiellem Wahrheitsgehalt werden durch unwillkürliche oder absichtliche Unwahrheiten ihrer Überzeugungskraft beraubt. Kasztner selbst, dem es eher um Handeln als um Spekulieren ging, scheint manchmal über seine eigene Motivierung nicht Bescheid zu wissen.
Die Unmöglichkeit, unter solchen Umständen einen klaren Überblick zu gewinnen, erzeugte eine Atmosphäre von Desorientierung, Frustration und Wut, in der alles möglich schien – selbst Mord. Aber auch nachdem Kasztner tatsächlich ermordet worden war, fand eine unvoreingenommene Suche nach der Wahrheit entweder nicht statt oder wurde – wie meine eigenen behutsamen Nachforschungen - ignoriert.
Kasztner starb, weil seine Zeitgenossen ihre Handlungen auf Vorurteilen aufbauten statt aufrichtig die Wahrheit zu suchen. Er fiel seinen eigenen Widersprüchen und den Manipulationen anderer zum Opfer. Alle glaubten, dass sie als freie Menschen ihren bewussten Absichten folgten, aber in Wirklichkeit gehorchten sie verborgenen Trieben und Impulsen, die sie sich selbst Pnicht eingestehen konnten oder wollten.
Seit Kasztners Tod ist die Welt nicht besser geworden. Mehr als je dominieren Habgier und Machtsucht, Verlogenheit und Heuchelei, Egoismus und Rücksichtslosigkeit, Hass, Ausbeutung und Gewalt unseren gesellschaftlichen Verkehr. Die Machthaber lügen immer unverschämter, um ihre Ziele zu erreichen, und die Massen, ob sie brav ihre Stimmen abgeben oder lärmig protestieren, lassen sich für alle Zwecke missbrauchen. Und während wir uns weigern, die Wahrheit zu sehen, wartet die heimliche Destruktivität in uns auf die erste Gelegenheit, einen ungehemmten Völkermord und einen globalen Feuerbrand zu veranstalten.
Wir werden wohl kaum je die volle Wahrheit über Kasztner – oder über irgendeine komplexe Frage im Leben – erfahren. Aber wenn wir ehrlich und objektiv unsere eigenen Motive befragten, könnten wir vielleicht diese wilde Jagd in die Vernichtung aufhalten und unsere Energien für positive Zwecke einsetzen. Wo die Wahrheit nicht erreicht werden kann, kann manchmal schon die Suche nach ihr ein befriedigendes Leben bringen. Ich muss gestehen, dass ich unter unseren alten Gebietern keine Hoffnung auf einen solchen Wandel sehe. Aber wenn wir überhaupt gerettet werden sollten, so werden uns vielleicht die jungen Menschen retten, die mich fragen, was wir tun müssen, um die Welt besser zu machen, als sie ist.